Über die Fahrrinne hinaus blicken
WIESBADEN. ? Ein Optimist kann auch dem Ergebnis der Bundestagswahl samt dem Einzug der AFD etwas Positives abringen: Das Parlament werde bunter und es gewinne an Lebendigkeit und Souveränität. Diese hoffnungsvolle Überzeugung hat der Sozialwissenschaftler Friedhelm Hengsbach am Donnerstag, 5. Oktober, im Rahmen der „Abendgespräche im Roncalli-Haus“ vertreten. Eine deutlich pessimistischere Sicht auf die Dinge steuerte der zweite Referent des Abends, der Historiker Michael Wolffsohn bei. Er sieht in der Institutionalisierung der „heimatlosen Rechten“ einen Schritt hin zu deren Normalisierung, wie es tendenziell gerade in Europa zu beobachten sei. Diese Entwicklung mache ihm Sorge, zumal die AFD seiner Meinung nach ihr Potential nicht einmal ausgeschöpft habe.
Kulturelles Gefälle
Die beiden Gesprächspartner waren im Rahmen der Veranstaltungsreihe der katholischen Kirche in Wiesbaden angetreten, um laut Einladung „nüchtern und zugleich leidenschaftlich“ Wahlnachlese zu betreiben. Der „kämpferische Europäer“ Hengsbach und das „deutsch-jüdische Glückskind“ Wolffsohn, wie der Moderator Meinhard Schmidt-Degenhard die zwei in Anspielung auf ihre jüngsten Veröffentlichungen ankündigte, legten dabei sehr unterschiedliche Betrachtungsweisen an den Tag. Eine zarte Übereinstimmung ergab sich allein in der Beurteilung der Wählerschaft der AFD als einer großen Gruppe in der Gesellschaft, die im öffentlichen Diskurs nicht vorgekommen sowie kulturell und sozial nicht beheimatet sei und sich jetzt gewehrt habe, wie es der Jesuit Hengsbach formulierte. Dass es ein solches „kulturelles Gefälle“ gebe, sei allerdings absolut nichts Neues, betonte Wolffsohn: „Das kennen wir seit Jahrhunderten.“
Religiöse Analphabeten
Kontrovers ging es bei der Ursachenforschung zu. Während Hengsbach unter anderem von der Osterweiterung von Europa und der damit einhergehenden Zunahme kultureller Vielfalt sprach, benannte Wolffsohn mit Nachdruck „die islamische Zuwanderung“ und die Angst vor terroristischer Gewalt als das Problem noch „jenseits der AFD“. Entschieden wies er dabei die Behauptung von Hengsbach zurück, dass diese Gewalt als Antwort auf westliche, militärische Interventionen in der Vergangenheit zu verstehen und letztlich von den Europäern selbst verursacht sei. Auf die Frage von Schmidt-Degenhard, wie mit der entstandenen Situation umzugehen sei, äußerte sich Wolffsohn „zutiefst pessimistisch“ auch im Hinblick auf die nötige Diskussion der religiösen Frage. Die Christen, die inzwischen größtenteils „religiöse Analphabeten“ seien, würden konfrontiert mit Muslimen, die ihre Religion ernst nähmen: „Das ist ein Dialog der Taubstummen.“
Nur ein instrumenteller Konsens?
In Bezug auf die sogenannte Leitkultur bezeichnete Wolffsohn eine mögliche Werteübereinstimmung als Illusion und sprach sich für einen funktionalen, instrumentellen Konsens aus, bei dem das Leben des Menschen höchstes Gut sein müsste. Es gebe aber berechtigte Ängste, dass der Staat unfähig sei, diese Sicherheit zu garantieren. Er zum Beispiele fühle sich, wie er provokant anmerkte, in Mecklenburg-Vorpommern nicht sicher. Hengsbach meinte dagegen, die Menschenrechte müssten Leitbild sein und der Frieden ein Staatsziel. Frieden realisieren, das ist seiner Überzeugung nach ? bei aller „gedämpften Euphorie“ ? auch Aufgabe und Möglichkeit der europäischen Union, an deren Anfang ein „Nie wieder Krieg!“ gestanden habe. Das sei mehr als Funktionalität, meinte er an Wolffsohn gewandt, für den die Vision eines vereinten Europas schlicht unrealistisch ist und der im Zuge einer weiteren „Zerbröselung“ das vermehrte Aufkommen von nationalen Konflikten erwartet.
Merkels mutige Entscheidung
Was den Umgang mit Flüchtlingen anbelangt, bezweifelte Hengsbach, dass die Aufnahmekapazität in Deutschland und Europa erschöpft sei. Er wandte sich in der Diskussion gegen eine restriktive Politik und unterstrich, dass das Leben der Menschen Vorrang haben müsse vor der Bewahrung von Konsum und Wohlstand hierzulande. Wolfssohn äußerte seinerseits aus seiner eigenen Biographie heraus großes Verständnis für die Situation der Flüchtlinge, die allemal gute Gründe zum Verlassen ihrer Heimat hätten.
Die "Grenzöffnung" der Kanzlerin 2015 lobte er als „mutige Entscheidung“. Ebenso nötig aber sei es gewesen, anschließend die „Notbremse“ zu ziehen angesichts einer drohenden „gesellschaftlichen Zerreißprobe“, sagte der ausgesprochene Skeptiker, der in diesem Zusammenhang sogar das Gespenst eines möglichen Bürgerkriegs an die Wand malte. Es gebe keine Konzepte und das Chaos werde sich fortsetzen, lautete sein düsteres Resümee. Allein Machterhalt als Ziel politischer Führung sei ihm zu wenig, kritisierte Hengsbach, der zum Abschluss noch einmal auf das Gerechtigkeitsideal pochte und einen „Blick nach vorne, über die Fahrrinne“ hinaus forderte. (rei)
Die Gesprächsreihe „Gott und die Welt“ wird veranstaltet von: Katholische Erwachsenenbildung Wiesbaden-Untertaunus und Rheingau, Katholisches Stadtbüro Wiesbaden und Katholische Erwachsenenbildung Hessen. Zum Jahresausklang kommt Bischof Georg Bätzing (7. Dezember).