Wenn das eigene Zuhause unsicher ist
Der 25. November wurde von den Vereinten Nationen zum "Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen" ausgerufen, um das Unrecht in den Fokus zu rücken. Weltweit machen Verbände und Menschenrechtsorganisationen mit vielen Aktionen auf das Leid von Mädchen und Frauen aufmerksam. Auch im Bistum Limburg ist man aktiv.
Ein Interview mit Theresa Kreutz von der Katholischen Erwachsenenbildung (KEB) und Stefanie Matulla, Referentin für Mädchen- und Frauenarbeit im Bistum Limburg.
Warum ist ein solcher Aktionstag überhaupt notwendig?
Kreutz: Gewalt gegen Frauen ist eine schwere Menschenrechtsverletzung, die auch in Deutschland passiert - und zwar jeden Tag. Die Gewalt ist gesellschaftlich meist unsichtbar, aber dennoch allgegenwärtig. Im Jahr 2019 wurden hier bei uns 117 Frauen von ihren (Ex-)Partnern getötet, 191 entkamen dem Versuch. Das bedeutet, alle drei Tage tötet ein Mann hierzulande „seine“ Frau, jeden Tag wird der Versuch unternommen.
In den vergangenen fünf Jahren lagen diese Zahlen sogar noch höher. Das BKA registrierte in 2019 insgesamt 142.000 Fälle von Partnerschaftsgewalt in Deutschland, mehr als 80 Prozent der Betroffenen sind Frauen. Das sind schockierende Zahlen, die uns alle wachrütteln müssen. Ich muss betonen: dies sind nur die Zahlen körperlicher Gewalt, die offiziell registriert wurde. Die Dunkelziffer liegt mit Sicherheit deutlich höher. Und was nicht vergessen werden darf: oftmals sind Kinder beteiligt. Die in der Kindheit erlebte oder miterlebte Gewalt hat fatale Folgen für die kindliche Entwicklung und das spätere Erwachsenenleben.
Gibt es konkrete Erkenntnisse, wie sich der Rückzug ins Private vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie hinsichtlich der Gewalt gegen Frauen auswirkt?
Matulla: Sehr schnell nach Beginn des Lockdowns im Frühjahr haben die Frauenhäuser gemeldet, dass sie an die räumlichen Kapazitätsgrenzen kommen. Zeitgleich warnte der Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen, dass die Pandemie die Gefahr der geschlechtsspezifischen Gewalt erhöhe. Auch aktuell höre ich noch Bestätigendes von Kollegen und Kolleginnen in Frauenberatungsstellen. Das eigene Zuhause ist für Frauen und Kinder in vielen Fällen leider absolut kein sicherer Ort. Hier kommt es zu verschiedenen Formen von häuslicher Gewalt: physisch, sexuell, finanziell,… Das hat für die Frauen und auch die Kinder diverse Langzeitfolgen.
Welche Frauen sind besonders gefährdet?
Kreutz: Laut der Organisation Terre des femmes e.V. ist häusliche Gewalt tatsächlich unabhängig von Alter, Ethnie und kann in allen Milieus vorkommen.
Was können betroffene Frauen tun? Wie können sie sich aus solchen Situationen befreien?
Matulla: Was bereits an vielen Orten und diversen Kanälen verbreitet wird, ist das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ (08000 116 016). Es ist ein bundesweites Beratungsangebot, rund um die Uhr erreichbar und mit Ansprechpartnerinnen, die verschiedene Sprachen sprechen. Das ist eine wirklich großartige Hilfe! Oft merken Frauen gar nicht, wenn die Beziehung in eine solche Spirale abrutscht. Hier können sie sich beraten lassen, aber auch, wenn es zu Übergriffen kommt. Es ist wichtig, die Signale, die Freunde oder Familie wahrnehmen, ernst zu nehmen und sich Hilfe zu holen. Beratungsstellen, die man aufsuchen kann, gibt es vielerorts, wie beispielsweise „Gegen unseren Willen e.V.“ in Limburg - oder andere. Beratung und Unterstützung von verschiedenen Seiten sind wichtig, um sich aus Gewaltsituationen bzw. derartigen Partnerschaften zu befreien. Leider braucht es oft sehr lange, bis Frauen* sich diesen Schritt trauen, oft auch wegen der Verantwortung für die eigenen Kinder oder aus Scham.
Es gibt ja auch andere Formen der Gewalt gegen Mädchen und Frauen – beispielsweise die Zwangsehe…?
Kreutz: Zwangsverheiratung und Frühehen sind ein internationales Problem, das in ganz überwiegender Zahl Mädchen und junge Frauen betrifft. Jährlich werden nach offiziellen Angaben von UNICEF weltweit 12 Millionen Mädchen unter 18 Jahren verheiratet, viele sind noch nicht einmal 16 Jahre alt.
Man geht davon aus, dass derzeit weltweit rund 650 Millionen Frauen zwangsweise unter 18 Jahren verheiratet wurden. Patriarchale Strukturen und Wertvorstellungen in Familien sind mitunter Ursache, wenn es um Zwangsheirat und Frühehen geht. Betroffene Mädchen müssen dann die Schule abbrechen, die Arbeit im Haushalt übernehmen, werden ihr ganzes Leben ökonomisch wie sozial abhängig und „vererben“ Armut und geringe Bildungsmöglichkeiten. Die Mädchen und Frauen kommen aus der Abhängigkeit nicht mehr raus und können kein selbstbestimmtes Leben führen. Wenn sie es versuchen, sind sie ganz massiv der Gefahr der Tötung ausgesetzt. Erlebte häusliche und sexualisierte Gewalt oder gesundheitsgefährdende Teenagerschwangerschaften haben Auswirkungen auf die physische und psychische Gesundheit der Betroffenen.
Obwohl Zwangsverheiratung in Deutschland strafrechtlich verfolgt wird und auch die Verheiratung Minderjähriger seit 2017 verboten ist, werden nach wir vor Mädchen und Frauen in Deutschland gegen ihren Willen verheiratet, sagt die Frauenrechtsorganisation Terre des femmes e.V.
Dies geschehe oft im Rahmen von traditionellen bzw. religiösen Zeremonien und habe für die Betroffenen dieselbe bindende Wirkung wie eine standesamtliche Trauung. Das ist hochgradig erschreckend. Daher ist Bildung entscheidend, um Zwangsehen zu verhindern und die Selbstbestimmung sowie Unabhängigkeit von Mädchen zu stärken, die möglicherweise inpatriarchalen Familienverhältnissen leben.
Welche besondere Verantwortung hat Kirche – auch im Hinblick auf Missbrauch? Welche Angebote macht das Bistum Limburg?
Matulla: Im kirchlichen Kontext erleben wir seit 2010 die Aufdeckung sexueller Gewalt. Neu in den Blick kommt auch geistlicher Missbrauch. Die Präventionsstelle des Bistums bietet entsprechende Schulungen an, um Anzeichen auf Gewalterfahrungen erkennen und entsprechend handeln zu können. Alle Einrichtungen und Pfarreien müssen ein institutionelles Schutzkonzept vorlegen, um den Menschen größtmöglichen Schutz zu bieten. Die Arbeit daran schärft natürlich auch unser Auge für private Kontexte. Eine stärkere Vernetzung mit Beratungsstellen bzw. eine bistumsweite Liste damit könnte ich mir für die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen als hilfreich vorstellen, um schnelle Hilfe zu gewährleisten. Unsere Botschaft ist ja die eines liebenden Gottes, der ein gutes und glückliches Leben für alle möchte. Insofern stehen wir in der Verantwortung, wenn wir wahrnehmen, dass Menschen, die zu uns kommen, Gewalt erleben – zuhause oder in der Kirche.
Wie erwähnt, kamen die Frauenhäuser seit Beginn der Pandemie schnell an räumliche Grenzen. Hier sollte die Kirche prüfen, wie sie die Frauenhäuser zum einen finanziell unterstützen kann, aber auch, ob es leerstehende Immobilien gibt und mit den Frauenhäusern gemeinsam schauen, wie diese genutzt werden könnten.
Was planen Sie konkret für den 25. November?
Matulla: Mit dem Aktionsbündnis „NEIN zu Gewalt an Frauen“ haben wir in den vergangenen Jahren im Kreis Limburg-Weilburg rund um den Internationalen Gedenktag am 25.11. verschiedene Informations- und Empowermentveranstaltungen angeboten. Zu diesem Bündnis gehören bspw. die Frauenbeauftragte des Kreises, aber auch Kollegen und Kolleginnen aus den Frauenberatungsstellen, des Frauenhauses sowie der Kirchen. In diesem Jahr bieten wir einen digitalen Gottesdienst an, in welchem wir mit Interviews für das Thema der häuslichen Gewalt weiter sensibilisieren wollen, unsere Klage darüber vor Gott bringen und nach Hoffnung Ausschau halten. Zu diesem Gottesdienst sind alle ganz herzlich eingeladen, per Zoom oder Livestream per YouTube.
Der digitale Gottesdienst findet statt am Mittwoch, 25. November 2020 um 18:00 Uhr. Über das Videokonferenztool Zoom können Sie sich einwählen: Meeting-ID: 861 8281 7765, Kenncode: 936341. Den Livestream auf YouTube erreichen Sie hier: https://youtu.be/tjl1xJkV394. Der Gottesdienst mit Interviews ist eine Kooperation von donum vitae, kfd – Katholische Frauengemeinschaft Deutschlands, Evangelische Kirche/Dekanat Runkel, Frauenberatungsstellen-Büros Limburg-Weilburg und Bistum Limburg.
Das Interview führte Annette Krumpholz von der Katholischen Erwachsenenbildung im Bistum Limburg (KEB)