Ein Loblied auf die Mehrdeutigkeit
Dieser Abend im Roncalli-Haus hat dem Namen der hier ansässigen Gesprächsreihe alle Ehre gemacht: Intensive eineinhalb Stunden lang sprechen der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg und der Journalist Meinhard Schmidt-Degenhard am Donnerstag, 27. September, tatsächlich über „Gott und die Welt“, so der Titel der Reihe. Dass es dabei alles andere als beliebig, sondern in weiten Teilen sehr persönlich zugeht und das Thema streckenweise sogar "Über Leben und Tod" heißen könnte , war sicher auch der offensichtlich langjährigen Bekanntschaft der beiden zu verdanken. Der prominente 84-jährige Schriftsteller jedenfalls präsentiert sich nicht nur geistreich, mit scharfem Intellekt und viel Humor, sondern auch sehr nahbar und mit großer Bereitwilligkeit, biografische Details mit einzuflechten.
Japan als das Fremde
So verrät er zum Beispiel, dass sich sein besonderer Bezug zu Japan „einer pränatalen Prägung“ verdanke. Seine dreißig Jahre ältere Halbschwester war in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts als Hauslehrerin einer japanisch-schweizerischen Familie nach Japan gezogen und hatte später diese Erfahrungen in einem Kinderbuch festgehalten. Die darin geschilderte Geschichte spielt sich in der Schweiz und in einem Haus in Kyoto ab. Aus diesem allerersten Buch, das er als kleiner Junge gelesen habe, habe er Japan als „das Fremde“ und damit faszinierend Andere kennengelernt. Muschg ist mit einer Japanerin verheiratet, sein Sohn ist in Tokio geboren worden. In „Heimkehr nach Fukushima“, seinem jüngsten Roman – „bitte nicht von meinem letzten sprechen, aus naheliegenden Gründen“ - erzählt der Romancier von einer Reise in dieses Land, wieder mit biografischen Bezügen. Er selbst war im Frühjahr 2011 dort, wenige Wochen nach der Reaktorkatastrophe.
Sind wir je sicher gewesen?
„Wo sind wir sicher? Und ist die menschliche Existenz je sicher gewesen?“: Diese Fragen filtert der Schriftsteller freundlicherweise selbst als Essenz aus seinem Werk heraus: „Passend für das Roncalli-Haus“, wie er schmunzelnd hinzufügt. Leben als solches sei ein Risiko, eine „völlig unerhörte“ Revolution der Materie. Zwischen der emotionalen Ausstattung des Menschen, der in seinem Leben knapp 150 Leuten so nahe stehe, dass er mit ihnen fühlen könne, und seinen technischen Möglichkeiten bestehe eine geradezu groteske Ungleichheit. Eine mögliche Überlegenheit der Künstlichen Intelligenz allerdings bestreitet Muschg deutlich: So etwas wie Goethes „Faust“ könne sie nicht hervorbringen. „Mehrdeutigkeiten und Humor sind nicht programmierbar.“
Ohnehin singt der 84-Jährige ein Loblied auf die Ambivalenz. Aus seinen Aufenthalten im Zen-Kloster – „um mich von meiner pietistischen Herkunft zu emanzipieren“ -, hat er die Erkenntnis mitgenommen, „dass Widersprüche nur heimliche Identitäten sind“. Aus Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ zitiert er den Satz, wahre Sätze erkenne man daran, dass ihr Gegenteil genauso wahr sei. Und geradezu genussvoll unterstreicht er mehrfach, dass Menschen nicht logisch funktionierten, sondern im Widerspruch zu ihren Grundsätzen lebten. Je spirtueller man sei, desto mehr mache einem der Leib zu schaffen: "Das ist doch natürlich!" ruft er mit charmantem Schweizer Tonfall in den Raum.
Gott hat mehr Humor als seine Diener
Muschg, der sich selbst als „Feind alles Korrekten“ charakterisiert, unterstellt Gott Lust am Spiel und vor allem „sehr viel mehr Humor als seinen Dienern“ und dass er im vergangenen Jahr wieder in die reformierte Kirche eingetreten ist, hat nach seinen eigenen Worten nichts mit Altersfrömmigkeit zu tun, dafür aber viel mit dem Gebot der Feindesliebe und dem Text der Bergpredigt. Unter diesem „Schutzdach“ wolle er leben und in diesem Glauben seines Vaters auch sterben, lautet sein berührendes Bekenntnis – nicht ohne einen weiteren Dreh: Die Frage der Auferstehung entscheide nicht über sein Credo, "da passe ich", sagt er, und gibt indirekt dem Publikum zuguterletzt einen Ratschlag mit auf den Weg. Ihn interessiere „jeder Augenblick, in dem ich leben und wahrnehmen kann.“